HAFENTRÄUME

Der Zollhof ist ein Gelände in Ludwigshafen. Er befindet sich zwischen Rhein und Innenstadt und funktioniert bis 2004 als Containerhafen. Ludwigshafen ist der fünftgrößte Binnenhafen Deutschlands (nach Duisburg, Köln, Hamburg und Mannheim). Früher, als die Pfalz bayrisch und Ludwigshafen gerade erst mit der BASF – nein, kurz vorher: Ludwigshafen wurde 1853 gegründet, die BASF siedelte sich 1865 an – aus dem malariaverseuchten Altrhein geschlüpft war, befand sich auf dem Zollhofgelände der Zollhafen. Er war mit einer Mauer umgeben und streng bewacht. Ein hochoffizieller Warenumschlagplatz.

Die Stadt Ludwigshafen hat im Juli 2006 offiziell beschlossen, das Zollhofgelände an den privaten Investor und Einkaufszentren-Magnat ECE zu verkaufen. ECE steht für "Einkaufs-Center-Entwicklungsgesellschaft". Sie ist die größte Firma dieser Art in Europa. Alexander Otto (aus der Otto-Versand-Familie) ist der Vorsitzende Geschäftsführer der ECE. Bis 2009 soll hier ein mit 30 000 qm völlig überdimensioniertes Shoppingcenter entstehen, die „Rhein-Galerie“.
Die Oberbürgermeisterin hat der Entscheidung zum Verkauf des Hafens als Einkaufszentrum in mehreren Bürgerforen und Internet-Chats den Anstrich der Mitbestimmung gegeben. Protest gab es im Gegensatz zu anderen Städten keinen, unter vier Augen waren fast alle dagegen - aber: „Wer hört schon auf mich?“ „Wer bin denn ich?“ „Das entscheiden die im Rathaus.“ „Ich konsumiere da sowieso nicht, ich gehöre nicht zu deren Klientel.“ Die Hoffnung auf eine „Reaktivierung“ der Innenstadt und auf mehr Arbeits- oder Ausbildungsplätze ist genauso illusorisch wie die, dass im neuen Zollhof ein Pennymarkt aufmacht oder dass der auf den Investorenplänen als „öffentlicher Raum“ ausgezeichnete ein öffentlicher Raum ist.
Denn der Freiraum am Rhein ist kurzerhand als ganzes zur Brache erklärt und billig verkauft und privatisiert worden. Die Stadt gibt freiwillig ihre Rechte ab. Ihr Geschäft ist momentan, das der ECE dauert an, solange der Trend, Lebensqualität über Konsum zu definieren, weitergeht. Dafür verzichten die meisten Bürgerinnen und Bürger anscheinend gerne auf ihren öffentlichen Raum – den ja niemand wahrgenommen hat - und lassen sich von privatem Wachschutz und Kameras beobachten. Oder wird das überhaupt noch registriert? (Ich meine den Verlust.) Die Normalität ist die Promotion solcher Einkaufszentren als Räume, die Freizeit gestalten. Die Vorstellung von Glück kommt als aseptischer Raum daher, der nicht mehr verlassen werden muss.

Mitten auf dem Zollhof steht ein Hochhaus: 21 Stockwerke, 168 Wohnungen, 15 Büros. Sonst nichts (mehr). Daneben die sechsspurige Straße zur BASF, auf der anderen Seite die Lagerhallen und der Rhein. Von Sommer 2005 bis Sommer 2006 arbeiteten Maike Lex und ich zusammen mit Leuten, die dort arbeiten und wohnen, an einer Performance. Sie basierte auf Interviews über Arbeit und Träume und auf einer gemeinsam entwickelten Fantasie über den Zollhof und das Hochhaus und wurde mehrmals dort aufgeführt: ZOLLHOF 4



BLICK AUS DEM 17. STOCK

Am Rhein, draußen. Auf dem Boden Markierungen: Murmelbahn, Sonnendeck, Bootsanlegestelle, Rheinbad, Spielplatz, Golfplatz, Wäldchen, Kindertagessstätte, Trimm-dich-Pfad etc.



IVOLA: Guten Abend! Ich darf Sie herzlich begrüßen auf dem Zollhof. Wir befinden uns im Jahre 2009 in der Stadt Ludwigshafen am Rhein. Der ZOLLHOF jetzt wirklich paradiesisch – und damit, meine Damen und Herren, ist kein Einkaufsparadies gemeint!


DAS ARCHIMEDISCHE PRINZIP

Anne,
jetzt erzähl ich dir mal die Geschichte von Archimedes im Bade. Also: Archimedes lebte im Altertum, auf Sizilien. Bei dem Klima hat er gerne gebadet. Und wie das damals so üblich war, wahrscheinlich in einem Holzzuber oder vielleicht auch in einer steinernen Wanne. Als er wieder einmal in seinem Bad lag, da hat er tief Luft geholt und dann wieder ausgeatmet. Und da ist ihm die Idee gekommen: Atmete er ein, blieb sein Körpergewicht gleich (dünn war er nicht), doch sein Körperumfang wurde größer. Diese Kraft trieb ihn nach oben. Der Auftrieb eines Körpers, stellte er in dem Moment fest, ist gleich der Wassermenge, die er verdrängt. Erfreut sprang Archimedes aus dem Bad und lief, nackt wie er war, auf die Gasse und rief: Heureka! Ich habe es gefunden!


Was habe ich heute den ganzen Tag gemacht? Gearbeitet? Wahrscheinlich. Nur dass ich mich nicht erinnern kann. Wie war’s heute? Heute? Ja - Wo? In der Arbeit? Welche Arbeit? Wovon sprichst du?




ROTER TEPPICH

Das Publikum wird vom Stewart in den Salon geführt.(TON: Ich bin ein
Mädchen aus Piräus). Victoria im Planschbecken, die anderen schauen
aus dem Fenster. Die Hemshof-Friedel* geht draußen vorbei. Schaut rein.
Winkt ab. (TON: Fade out) Franz, Angelika, Nicole und Anne knipsen ihre
Stehlampen an.


NICOLE: Ich wollte mal, na ja, man sollte sich doch mal umgucken, wo man wohnt, man sollte sich auch im Treppenhaus auskennen, im Notfall müsste man da ja durch. Pflichtübung also. Als ich auf dem Absatz bin, höre ich einen Schrei: Dann ist ein Schatten vorbei gefallen. Im Treppenhaus sind so starke Scheiben, da kann man nicht durchgucken. Wie ich oben bin, seh ich eine Frau im Bademantel unten zwischen den Gleisen liegen.
ANGELIKA: Eine junge Frau. Aber das war kein Selbstmord, sie hatte einen depressiven Schub.
FRANZ: Ist von da oben natürlich leicht, runterspringen. Fliegen bis zum Ende.
ANNE: Die Schwerkraft: Erdbeschleunigung: Gewicht ist gleich Masse mal Erdbeschleunigung mal Höhe (9,81 Meter durch Sekunde zum Quadrat = Erdbeschleunigung). G = M mal g mal H. Der Weg, der zurückgelegt wird beim Fallen, hängt von der Höhe ab. Der Weg ist vorgegeben. Es geht nur noch um die Zeit. Weg (S) = Erdbeschleunigung (g) mal Zeit (t) zum Quadrat ... Die Barometrische Höhenformel.

S = g mal t quadrat



ANGELIKA: Und ich dachte, die Physik hat die Antwort auf die Frage „Wer ist Gott?“. – Wer sind wir? Das ist die Frage. Atommodelle sind nur Modelle und keine Wahrheit. Das hat mich nicht mehr interessiert und ich habe mich der Kunst gewidmet. Ende der 70er waren noch politische Zeiten in Warschau. 1981 bin ich abgehauen vor den Repressalien. Ich wollte nach London, bekam aber kein Visum. Ich wollte nach Paris, dort hatte ich die Adresse einer Bekannten. Und dann bin ich hier hängen geblieben in der Pfalz. Ich habe bei Bauern in Ruchheim übernachtet. Am nächsten Morgen haben die mir Stiefel hingestellt. Die Bauern dachten: Ah! Eine Polin, die will bestimmt arbeiten. Und ich dachte, in Deutschland ist das so üblich, man hilft, die Leute sind arm. Ich hab also eine Woche beim Blumenkohl geholfen, wir haben uns ja nicht verstanden. Bis jemand auftauchte, der Englisch sprach!
Die deutsche Provinz war ein Kulturschock für mich. Die Bauern haben Folkloresendungen geguckt: Der Blaue Bock etc. Wo bin ich hier gelandet? dachte ich. Zu Hause im Theater haben wir Peter Brook und die Avantgardisten diskutiert... Wau!
Ich habe damals gemalt, Gedichte geschrieben, studiert, am Theater gearbeitet und für eine Zeitung. Nebenher hab ich als Zimmermädchen gejobbt, um mich zu finanzieren. Also gesponnen und geschuftet. Irgendwann wurde ich 30. Und da habe ich beschlossen, dass ich mich für eins entscheiden muss.

FRANZ: Chemotechniker bin ich. Diplom-Chemiker wollte ich werden, möglichst mit Doktortitel. Und dann habe ich … Haben Sie schon was von der doppelten Natur gesehen? Wenn die Sonn´ im Mittag steht und es ist als ging die Welt im Feuer auf ... na ja, das war ne Dummheit von mir. Ein Sammelsurium aus Dummheit, Faulheit, Einbildungen und falschen Einredungen. Ich habe eine Frau kennengelernt, die war aus dem Kunstsektor. Und da bin ich mir als Chemiker vorgekommen wie ein Bauerntrottel und da habe ich dann mein Interesse dran verloren. Na ja, also. Dann hab ich ne Zeitlang gar nichts gemacht. Und dann hab ich mich auf das besonnen, was ich hatte und dann den Laborant nachgemacht und dann den Chemotechniker. Ich habe in der BASF angefangen. Als Schichtarbeiter. Ganz unten. Zwei Jahre lang hab ich das gemacht. Dann hab ich mich intern weiter beworben. Die Ankreise des Dreiecks! Haben sie schon mal gesehen wie die Ankreise und der Innenkreis harmonieren? Wer das lesen könnte. Ich kann Ihnen sagen: anscheinend ziehe ich Leute an, die mich versuchen kaputt zu machen. Anscheinend stoße ich die Leute schon vor den Kopf mit meiner Denkweise. Glauben Sie, dass ich für meinen Verbesserungsvorschlag Anerkennung bekommen hätte? Mein Betriebsleiter hat diesen Verbesserungsvorschlag – der übrigens vom Abteilungsleiter als besonders gut gelobt worden ist vor den Ohren meines Betriebsleiters – als Angriff verstanden. Mit allen Mitteln hat der versucht, mich rauszumobben. Es geht hinter mir, unter mir, hohl, hörst du? Alles hohl da unten. Dass ich meinen Job überhaupt behalten habe, das ist die einzige Prämie, die ich bekommen habe für diesen Verbesserungsvorschlag. Eingeführt worden ist er natürlich nicht, weil mein Betriebsleiter die alte Methode offenbar erfunden hatte, und mein Vorschlag war für ihn Gift.
ANNE: Was?
FRANZ: Gift. Aber ich bin anscheinend so ein Typ. Überall ecke ich an. Ich denke mir die besten Sachen aus und denke, ich müsste dafür Anerkennung bekommen und … Das sind halt so Gedanken, die ich habe. Die Reime, die ich mir darauf mache. Hohl, alles hohl da unten. 2003, da haben die ihr Standortkonzept durchgezogen. Und da wollten sie mit Abfindungsangeboten einfach mal einen größeren Schub rauskriegen. Mit Fluktuation allein ging denen das zu langsam. Das erste Angebot hab ich abgelehnt. Warum ich? Hab ich mich gefragt. Anne!
ANNE: Was?
FRANZ: Da rollt abends der Kopf. Dann wollten sie mich in eine Service-Agentur reinstecken. Aber das hab ich alles konsequent abgewehrt. Als sie dann aber keine Ruhe gegeben haben, hab ich schließlich das Abfindungsangebot akzeptiert. Und seit zwei Jahren bin ich nicht mehr Mitarbeiter dieses großen Chemiekonzerns.
ANNE: Franz! Hörst du’s noch?
FRANZ: Still. Alles still, als wär die Welt tot.


NICOLE: Was ich in meiner Kindheit nicht hatte, das sollen die anderen auch nicht haben! Man kann eh nichts verändern! Das ist das Problem! Es könnten mehr Freizeitanlagen da sein. Und Spielplätze für Kinder, das stimmt schon. Aber dann sollen die halt keine Kinder machen, wenn sie keine Spielplätze haben. Dadurch, dass ich nicht so ne Kindheit hatte, weiß ich auch nicht: wie machen die anderen das heute? Um mich hat sich auch niemand gekümmert! Mit mir hat auch keiner gespielt.
Ich hab keine große Ahnung, was man verbessern kann. Ich hab mir noch nie Gedanken gemacht. Was kann man verändern? Ich bin so n Mensch, der arbeitet, habe keine Freizeit. Wann sind wir das letzte Mal ausgegangen? In irgendeine Kneipe rein zu gehen, besoffene Leute anzugucken die mit ihrer dicken Wampe da an dem Tresen sitzen: Will ich nicht! In Kneipen geh ich aus Prinzip nicht. Und dann will man ja auch Kommentare vermeiden. Ich hab keine Zeit mir Gedanken zu machen. Ich will ein bisschen Natur haben. Keine Idee, was man verändern kann. Wir haben gelebt und gearbeitet. Ich bin schon egoistisch. Jetzt sitzen wir hier und sind eigentlich beide unzufrieden.
Ich hab nur Sonntag frei, und da tu ich
Wäsche waschen und bügeln. Ich hab nie frei.
Und da sperr ich dich auch mit ein.


Der Stewart schaltet das Video mit den Innenaufnahmen der Wohnungen
aus, zieht die Schwimmweste an, den Vorhang zur Seite und verlässt den
Raum.






P.S.
NICOLE: Und was bringt es dir, wenn du deinen Chef anschreist?
ANNE: (schnellt im Stuhl vor, letzter Wutausbruch) Meine innere Ruhe!